Warum ich es liebe, Menschen zu ermutigen

29. April 2021

Es ist schon einige Jahre her, als er vor mir saß.

Ein junger Mann, vielleicht Anfang dreißig. Er ist ungepflegt, seine Haare hängen an ihm herunter, die Kleidung ist nachlässig und sicher schon oft getragen. Seine Augen blicken leer und traurig nach unten. Nur kurz schafft er es, mich anzuschauen, wenn er mit leiser Stimme spricht.

Einige Tage zuvor hatte er mich angesprochen. Ob er auch mal zu einem Gespräch zu mir kommen könne. So haben wir uns verabredet und sitzen jetzt in einem kleinen Raum.

Das Gespräch ist schleppend. Worüber er denn sprechen möchte, frage ich ihn. Er erzählt mir dies und das und ich spüre, dass das was er mit mir teilt, nicht das eigentlichen Thema ist. Aber ich will ihn nicht bedrängen und nehme, was kommt. Ich konzentriere mich darauf, liebevoll zugewandt zu bleiben und ihn in seiner Persönlichkeit, seinen Stärken, seinen Sehnsüchten, seinen Ängsten, seinen Lebensüberzeugungen wahrzunehmen.

Ich will ihm ein Spiegelbild zeigen, das die Schönheit, die Gott in ihn hineingelegt hat, spiegelt.

So geht eine Stunde vorbei und wir nähern uns dem Ende der Gesprächszeit. Als ich das signalisiere, schaut er mich das erste Mal richtig an und es platzt aus ihm heraus.

Das Schmutzige, das, wofür er sich verachtet, was ihn gefangen nimmt, auf das er sich aus Verzweiflung eingelassen hat und das er nicht mehr los wird.

Er weint und schämt sich.

In mir ist Dankbarkeit. Ich weiß, bevor wir zu dem frischen, klaren, reinen Quellwasser vordringen, das auch in ihm ist, muss erst der Schlamm rauskommen.

So höre ich zu, nehme sein Bekenntnis wahr und versichere ihm, dass ich seinen Mut schätze, es mir zu erzählen. Schnell und ein bisschen unsicher huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

Ich weiß, dass wir eine Tür aufgestoßen haben. Er kann gehen, ermutigt durch die Erfahrung, dass es jemanden gibt, der ihn nicht verachtet, der zuhört und noch etwas anderes sieht, als die unvollkommene, die dunkle Seite in ihm.

In den darauffolgenden Gesprächen können wir über seine Sehnsüchte reden und uns auf die Suche machen, wie er mit Hilfe seiner Stärken einen konstruktiveren Weg einschlagen kann, um ein Leben mit Gewinn zu führen.

 

Wir leben in einer ENTmutigungsgesellschaft

Wir sind darauf trainiert, die 20% in unserem Leben zu sehen, die noch nicht gut genug sind. „Ja, aber….“ ist zu einer normalen Haltung in uns geworden.

Es ist nie gut genug, profitabel genug, schnell genug, liebevoll genug, ….

GUT IST UNS NICHT GUT GENUG

Das war einmal ein Werbeslogan einer Warenhauskette.

Diese Einstellung macht uns zu erbarmungslosen Perfektionisten, zu Menschen, die alle anderen übertrumpfen wollen und so werden wir zu erfolgreichen Konkurrenten.

Das Miteinander wird zum Machtkampf, der für viele Menschen in Erschöpfungsdepressionen und Burn Out mündet.

Wir verlieren unsere Identität aus den Augen, weil wir immer nur die Anderen sehen und uns an ihren Leistungen orientieren.

Wer nicht mithalten kann, fällt aus der Gemeinschaft, ist ein Loser. Ein Gefühl der Minderwertigkeit breitet sich in uns aus und wir fangen an, uns auf die destruktive Seite des Lebens zu schlagen.

Wie der junge Mann, der überzeugt war, dass er ein Niemand ist und niemals eine Partnerin finden wird. Also hat er sich mit der finsteren Seite der Sexualität beschäftigt, was zu noch mehr Ablehnung seiner selbst geführt hat.

Um aus dieser Abwärtsspirale der ENTmutigung aussteigen zu können, müssen wir lernen, anders zu hören, zu sehen, zu denken.

Wir brauchen den Mut, eine andere Perspektive einzunehmen und gegen den Strom zu schwimmen.

Wir müssen uns entscheiden, ob wir in der Bedeutungslosigkeit, in die uns diese Entmutigungsstrategien führen, versinken wollen oder ob wir lernen wollen, unser Profil zu zeigen und vielleicht nicht die Besten zu sein, dafür aber unser Bestes zu geben.

  • Wer sein Bestes gibt, trägt dazu bei, dass sich diese Welt in all ihrer Schönheit und mit all ihren wunderbaren Geschöpfen entfalten kann.
  • Wer sein Bestes gibt, trägt dazu bei, dass sich Gerechtigkeit in dieser Welt ausbreiten kann.
  • Wer sein Bestes gibt, macht die Welt reicher.
  • Wer sein Bestes gibt, spiegelt die Schönheit Gottes wieder und macht diese Welt heller.
  • Wer sein Bestes gibt, findet Glück und Zufriedenheit in seinem Leben und wird unabhängig von  Umständen und dem Urteil anderer Menschen
  • Wer sein Bestes gibt, ist ein Geber und geht Risiken ein

 

Das erfordert Mut.

Wenn ich mein Bestes geben will, muss ich meine Komfortzone verlassen und mich auf die Suche machen, wo denn mein Bestes gebraucht wird.

Dafür betrete ich unbekanntes Land. Ich muss mich  für Neues und Anderes öffnen.

Das kann Angst auslösen. Da braucht es Ermutigung.

 

Wo finde ich die nötige Ermutigung?

Persönlich ist es mir eine tägliche Stärkung, wenn ich meinen Geist auf Gottes wunderbare Gegenwart ausrichte.

  • Ich lese in der Bibel.
  • Ich lese Geschichten von Menschen, die zum Teil lange vor mir in dieser Welt gelebt haben und sich auch auf das Abenteuer,  ihr Bestes zu geben, eingelassen haben
  • Ich nehme meinen Seelenhunger wahr und probiere die Speisen aus, die Gott mir anbietet
  • Ich stehe zu meinen Ängsten und frage Jesus, wie er es denn geschafft hat, solche Ängste zu überwinden (das ist meine Art zu beten)
  • Ich pflege meine wichtigsten Beziehungen und umgebe mich mit Menschen, die mir gut tun
  • Ich baue Erlebnisse in meinen Zeitplan ein, die mir gut tun (spazieren gehen, in schönen Städten bummeln, verreisen)

 

Wenn ich so für mich sorge, verändert sich meine Sichtweise auf die Menschen, denen ich dann begegne (was zur Zeit meistens über ZOOM geschieht).

Auf einmal entdecke ich hinter Unfreundlichkeiten, Unzufriedenheiten, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit den Hunger und die Menschen, die nach Annahme und Zuwendung rufen.

Mir kommen Worte der Zuversicht und Worte der Freude in den Sinn und ich spreche sie aus.

Das Staunen und Lächeln, das Aufleuchten in den Augen meines Gegenübers ermutigt wiederum mich und ich freue mich, dem unguten Gefühl, das Unfreundlichkeit und Unzufriedenheit in mir auslöst, nicht gefolgt zu sein.
Ich liebe es, Ermutigerin sein zu dürfen und andere anzuleiten, die es auch werden wollen.